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Nervenkrankheiten durch Lösemittel

Problemstellung

Nervenschäden durch Arbeitsstoffe wurden bei uns ab etwa 188o viel diskutiert (z.B. Benzin-, Xylol-Vergiftung). Mit der NS-Machtergreifung wurde diese arbeitsmedizinische Tradition zerstört. In der BRD waren arbeitsbedingte Nervenschäden kein Thema, außer Blei-Vergiftung. Hinweise auf die in Dänemark seit 1976 als Berufskrankheit anerkannte "Malerkrankheit" (Gregersen/Hansen 1986, Mikkelsen 1988, WHO 1985, WHO/Nordic Council 1985) und eine Mini-Epidemie von Todesfällen durch Klebstoff-"Schnüffeln" haben dann auch hier eine Diskussion in Gang gesetzt (Maschewsky 1992).

Krankheitsbild

Akute Wirkungen von nervenschädigenden Stoffen (Neurotoxinen) sind z.B. Erregung, Rausch, Verwirrtheit, Müdigkeit und Bewußtlosigkeit (Maschewsky 1988a). Chronische Wirkungen unterscheiden sich nach dem Angriffspunkt im Nervensystem:

Nervenschäden durch Arbeitsstoffe sind vielgestaltig, aber oft stoffunspezifisch. Sie werden in drei Schweregrade eingeteilt:

I unspezifische Befindlichkeitsstörung (starke Müdigkeit, erhöhte Reizbarkeit, Antriebs-, Erinnerungs- und Konzentrationsschwäche, Kopfschmerzen); Diagnosen: pseudoneurasthenisches Syndrom, Hirnleistungsschwäche, leichtes organisches Psychosyndrom
II a wie I, aber stärker ausgeprägt
II b wie I, aber stärker ausgeprägt; zusätzlich Zittern, Koordinations- und Bewegungsstörungen, Anzeichen einer Polyneuropathie (Kribbeln, Empfindungslosigkeit, Muskelschwäche, Lähmungen in Armen und Beinen)
III Demenz (Hirnleistungsschwäche) mit starken Wahrnehmungs-, Denk- und Gedächtnisstörungen.

Fallbeispiel

Spritzlackierer, 25 Jahre lang in unterschiedlichen Betrieben als "Angelernter" eingesetzt. Die Tätigkeit umfaßte das Lackieren von Metallteilen, die zuvor mit Lösemitteln gereinigt und entfettet wurden. Das Lackieren erfolgte mit Spritzpistole in einer Spritzkabine, anfangs ohne Absaugung. Es wurden nur Masken mit Watteeinsätzen zur Verfügung gestellt, die zwei- bis dreimal täglich gewechselt wurden. Elf Jahre lang arbeitete er täglich acht bis zehn Stunden in der Spritzkabine.
Wegen zunehmender Leistungseinschränkung und mehrfacher langer Krankheit wurde Erwerbsminderungsrente beantragt. Ein Neurologe vermutete Berufskrankheit durch Lösemittel und stellte bei der Berufsgenossenschaft eine Verdachtsanzeige. Die beiden Verfahren dauerten sieben Jahre, in denen sich der Gesundheitszustand weiter verschlechterte. Der von der BG beauftragte Gutachter schloß nach vielen Untersuchungen, daß eine lösemittel-bedingte Enzephalopathie ohne Polyneuropathie vorliege und bescheinigte eine Erwerbsminderung von 20 %. Die BG schloß sich dem an.

Auslöser

Nervenschädigend wirken viele Tier- und Pflanzengifte, Genußstoffe, Rauschmittel und Medikamente. Die nervenschädigende ist meist nur eine Wirkung unter anderen, z.B. der krebserzeugenden bei Benzol, der blutdrucksteigernden bei Blei. Zudem hängt die Wirkung von der Dosis ab.
Nervenschädigend wirken auch Arbeitsstoffe und Umweltchemikalien. Dies gilt für Einzelstoffe, wie Akrylamid oder Formaldehyd (Vogel 1997), aber auch viele Stoffgruppen, wie organische Lösemittel, Pestizide, Holzschutzmittel, einige Metalle. Davon sind mehrere Berufsgruppen stark betroffen, z.B.

Daneben sind auch Verbraucher/Konsumenten im Einzelfall stark exponiert, etwa gegenüber Formaldehyd, Holzschutzmitteln, Pestiziden, Amalgam. Insbesondere bei einer entsprechenden, angeborenen oder erworbenen, Veranlagung kann auch diese Exposition zum Gesundheitsrisiko werden (Rosenbrock/Maschewsky 1998).
Das Lösemittel-Syndrom (LMS) ist inzwischen die wichtigste Variante einer arbeitsstoff-bedingten Nervenschädigung. Akute und chronische Wirkungen werden durch Lösemittel ausgelöst und können sich - je nach Stoff, Dosierung, Wirkungsphase/-dauer - unterscheiden. Organische Lösemittel sind Flüssigkeiten, die feste, flüssige oder gasförmige Stoffe lösen. Sie wirken entfettend, auch auf Nervengewebe, was Nervenfunktionen stört.

Diagnoseprobleme

Vermeidung und Entschädigung arbeitsstoff-bedingter Nervenschäden sind teuer - dies erklärt die zögerliche Anerkennung. Auch inhaltliche und methodische Gründe sprechen dagegen (Maschewsky 1988a):

Folge: Entweder lassen Betroffene oder Ärzte die Nervenschäden unbeachtet und ordnen sie dem gewohnten "Hintergrundrauschen" von Befindlichkeitsstörungen zu. Oder die Nervenschäden werden zwar untersucht, aber mit Annahmen, die eine Schadstoffexposition wenig berücksichtigen. Verbreitet sind drei Thesen (Maschewsky 1988b):

Dieselbe Gesundheitsstörung läßt sich oft gleichermaßen als LMS oder MCS diagnostizieren. Die sozialrechtlichen Konsequenzen sind aber sehr unterschiedlich (Maschewsky 1999). LMS ist inzwischen, vom Prinzip her, als Berufskrankheit anerkannt, MCS dagegen nicht. Ein Arbeitnehmer mit Lösemittel-Exposition, Polyneuropathie- oder Enzephalopathie-Symptomen hat eventuell eine Chance, dies von der Berufsgenossenschaft als Bk 1317 anerkannt und entschädigt zu bekommen - aber nicht, wenn die Diagnose MCS lautet.

Anerkennung als Berufskrankheit

Lange Zeit wurde das LMS durch die Berufskrankheiten-Verordnung nur indirekt erfaßt, was die Zahl der Anerkennungen und Entschädigungen sehr niedrig hielt. Nach hartnäckigem Widerstand vieler Arbeitsmediziner (z.B. Triebig 1986) ist aber das LMS - mit 2o Jahren Verspätung gegenüber Dänemark - seit 1997 als neue Berufskrankheit anerkannt (Bk 1317: Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische).
Eine Entschädigung des LMS wird oft unterlaufen (Maschewsky 1999, NN 1998, 1999, Vogel 1998): extrem seltene Anerkennung, vorzugsweise in untypischen Berufen; Nichtanerkennung bei Unterschreitung hochgesetzter Dosisjahre oder bei bleibenden Schäden; Anerkennung mit nur minimaler Erwerbsminderung, die keine Entschädigung begründet.

Literatur

Gregersen P, Hansen T, Organic solvents. Miljøministeriet, Miljøprojekt nr 72, Kopenhagen, 1986
Maschewsky W, Nervenschädigung am Arbeitsplatz. Edition Sigma, Westberlin, 1988a
Maschewsky W, Psychosomatisch oder neurotoxisch? Jahrbuch Kritische Medizin, 13, 1988b, 154-164
Maschewsky W, Offensive oder Rückzugsgefecht? Der neue Streit um die "Malerkrankheit". Gegengift (Hamburger Hefte für Arbeit & Gesundheit), 12/13, 1989, 4-8
Maschewsky W, Brain damage by workplace chemicals - overdiagnosis or underreporting? International Journal of Health Sciences, 2, 1992, 1o5-11o
Maschewsky W, Psychisch gestört oder arbeitsbedingt erkrankt? MCS, Lösemittel-Syndrom und Bk 1317. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, 1999, 1-1o5
Mikkelsen S et al, Mixed solvent exposure and organic brain damage. Acta Neurologica Scandinavica, 78 (suppl), 1988
NN, Die beste Idee, die die deutsche Arbeitsmedizin je hatte - nur eine verschwundene Krankheit ist eine Berufskrankheit. Berufskranheiten ak-tuell, 22/23, 1998
NN, Toxische Enzephalopathie, Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel. Berufskrankheiten aktuell, 26/27, 1999
Rosenbrock R, Maschewsky W, Präventionspolitische Bewertungskontroversen im Bereich Umwelt & Gesundheit. Wissenschaftszentrum Berlin, papers, 1998
Triebig G hg, Erlanger Malerstudie. Arbeitsmedizin - Sozialmedizin - Präventivmedizin, Sonderheft 9, 1986
Vogel A hg, Politikum Formaldehyd. AbeKra, Altenstadt, 1997
Vogel A, "Und ich dachte, ich wäre versichert". AbeKra, Altenstadt, 1998
WHO hg, Neurobehavioral methods in occupational and environmental health. WHO, Kopenhagen, 1985
WHO/Nordic Council of Ministers hg, Organic solvents and the central nervous system. WHO, Kopenhagen, 1985