Umweltgerechtigkeit
MCS
Nervenkrankheiten
Herzkrankheiten
Links
Zur Person
Kontakt
Problemstellung Verteilung von Umweltbelastungen Fallbeispiel Entstehung von Umweltungleichheit Soziale Bewegung für Umweltgerechtigkeit Ziele Relevanz für die BRD Literatur

Umweltgerechtigkeit

Problemstellung

Umweltgerechtigkeit (environmental justice; bzw. environmental inequity, discrimination, racism) ist ein Problem an der Schnittstelle von Umwelt-, Sozial- und Gesundheitspolitik, das in den USA seit den 8oer Jahren stark diskutiert wird (Bryant 1995, Bullard 1994, EPA 1987). Thema ist die Verteilung von Umweltbelastungen auf soziale Gruppen und Regionen, was Fragen von Verteilungs-, Verfahrens- und Vorsorgegerechtigkeit, damit auch sozialer Gerechtigkeit, aufwirft.

Verteilung von Umweltbelastungen

Nach US-Studien hat die sozialräumliche Verteilung von Umweltbelastungen oft folgende Merkmal (Bullard 2ooo, REHW 1991, 1993, 1997, 1998):
Fallbeispiel

In Woburn, einem kleinen Arbeiter-Vorort nördlich von Boston, wurde 1969-79 eine auffällige Häufung von Leukämiefällen bei Kindern beobachtet, von denen die Mehrzahl (16 von 28) tödlich verliefen. Das Risiko, an Leukämie zu sterben, lag für ein Kind in East Woburn um den Faktor 12 über US-Durch-schnitt. Die Einwohner hatten sich lange über trübes, übelriechendes und übelschmeckendes Trinkwasser beschwert, ohne daß die Behörden etwas unternahmen.
Das Leukämie-Cluster wurde von Eltern und Epidemiologen aufgedeckt, mit einfachen Methoden und ohne Forschungsgelder, die immer verweigert wurden. Das nach großer Presse-Resonanz eingeschaltete Massachusetts Department of Public Health (DPH) setzte die Zahl betroffener Kinder wesent-lich niedriger an, mußte trotzdem eine Verdopplung des Leukämie-Risikos zugestehen, behauptete aber, die Ursachen seien unbekannt.
Nach Aufdeckung des Leukämie-Clusters hatte sich gezeigt, daß zwei nahegelegene Chemiewerke - Ableger der Konzerne Grace und Beatrice Foods - Erdreich, Fluß und Grundwasser massiv chemisch verschmutzt hatten, mit nervenschädigenden und krebserzeugenden Chemikalien, wie Trichlorethylen (Tri), Perchlorethylen (Per), 1,1,1-Trichlorethan und Chloroform. Die Konzentrationen von Tri und Per lagen bei den zwei Trinkwasserbrunnen um den Faktor 4o über geltenden Grenzwerten, wovon die DPH seit 1956 wußte.
Die Verursacher konnten den Zivilprozeß - über Bestehen, Art und Ausmaß der Verschmutzung; ihre Einwirkung aufs Grundwasser; den Nachweis, daß die Wasserverschmutzung die Leukämie verursacht hatte - erfolgreich von 1983 bis 1986 hinziehen. Dann war das Anwaltsbüro, das die mittellosen Kläger vertrat, finanziell ruiniert und mußte aufgeben (Harr 1995). Ursache waren die juristisch kaum nachvollziehbaren Entscheidungen des zuständigen Bundesrichters. Beatrice Foods wurde mangels Beweisen freigesprochen. Als später Beweise auftauchten, die die Firma dem Gericht vorenthalten hatte, lehnte ein Berufungsgericht die Wiederaufnahme des Verfahrens ab.
Grace war nach Ansicht der Geschworenen der chemischen Verseuchung des Grundwassers überführt. Der Richter lehnte aber die Festsetzung von Schadensersatz ab, weil die Geschworenen die wissenschaftlichen Fakten angeblich falsch verstanden hätten, und kündigte an, den Prozeß von vorne aufzurollen. Entnervt stimmten die Kläger einer außergerichtlichen Einigung zu. Später klagte das US-Justizministerium Grace an, die Umweltbehörde bezüglich der verwendeten Chemikalien angelogen zu haben - Grace mußte 1o.ooo Dollar Strafe zahlen.

Entstehung von Umweltungleichheit

Umweltungleichheit - im Sinne sozialräumlicher Ungleichverteilung von Umweltbelastungen - wird bei dieser Kontroverse nicht nur festgestellt, sondern als ungerecht bewertet (Harvey 1996). Sie kann durch verschiedene Prozesse entstehen (Maschewsky 2oo1):

Soziale Bewegung für Umweltgerechtigkeit

In der BRD ist die soziale Verteilung von Umweltbelastungen bisher kein Thema. Entsprechend wird hier Prävention von Umweltungleichheit gar nicht erst diskutiert. In den USA führten dagegen konkrete Fälle zur Forderung nach Umweltgerechtigkeit (UG), was an Bürgerrechts-, Armuts- und Gewerkschaftsbewegung anknüpfte. Es entstanden zahlreiche Bürgerinitiativen (NIMBYs; abgeleitet von: "Not in my backyard!"), die lose kooperierten und über Medien erheblichen politischen Druck auf lokaler, einzelstaatlicher und Bundesebene ausübten (Faber 1998, Szasz 1994).
Präsident Clinton erließ 1994 einen Regierungserlaß zu UG (Executive Order on Environmental Justice), der US-Bundesbehörden und Ministerien anwies, UG bei ihren Aktivitäten zu berücksichtigen. Es war umstritten, ob dies über symbolische Politik hinausreichte.

Ziele

Die UG-Bewegung der USA hat folgende Ziele (Maschewsky 2oo1):

Relevanz für die BRD

Prinzipiell ist in einem Sozialstaat die Abwälzung von Umweltbelastungen auf sozial und politisch benachteiligte Personengruppen nicht sinnvoll, da sie die gesellschaftlichen Kosten für die Angleichung von Lebenschancen erhöht. Bleibt dies unbeachtet, könnte - nach Logik des deutschen Sozialsystems - die Schaffung einer "Gesetzlichen Umweltversicherung" notwendig werden, die verbreitete und schwerwiegende Umweltbelastungen als soziales Risiko regelt (wie unlängst beim vergleichbaren Fall der Pflegebedürftigkeit geschehen)
UG ist ein neuer Denkansatz, läßt sich aber auf die bestehende Umwelt-, Sozial- und Gesundheitspolitik beziehen (Maschewsky 2oo1). In der deutschen Diskussion bieten die Begriffe "Umwelt-", "Sozial-" und "Gesundheitsverträglichkeit" konzeptionelle Anknüpfungsmöglichkeiten. Prozedural ist eine Anbindung an Aktivitäten zu "Gesunde Städte", "Lokale Agenda 21" und "Soziale Stadt" möglich.

Literatur

Bryant B hg Environmental justice: issues, policies, and solutions. Island Press, Washington (D.C.), 1995
Bullard RD hg Unequal protection. Environmental justice & communities of color. Sierra Club, San Francisco, 1994
Bullard RD Dumping in Dixie: race, class, and environmental quality (3. Aufl.). Westview Press, Boulder (Colorado), 2ooo
EPA (Environmental Protection Agency) hg Unfinished business: a comparative assessment of environmental problems. EPA, Washington, D.C., 1987
Faber D hg The struggle for ecological democracy. Guilford Press, New York, 1998
Harr J A civil action. Random House, New York, 1995
Harvey D Justice, nature & the geography of difference. Blackwell Publishers, Malden (Mass.), 1996
Maschewsky W Umweltgerechtigkeit, Public Health und soziale Stadt. VAS, Frankfurt/M., 2oo1
REHW (Rachel´s Environment & Health Weekly; www.rachel.org) # 238: New fronts in the waste wars - part 1: the regulatory-industrial complex. 1991
  # 366: Carol Browner and environmental justice: words vs. deeds at the EPA in Georgia. 1993
  # 56o: A new US waste strategy emerges - part 1. 1997
  # 615: Environmental justice in Louisiana. 1998
Szasz A Ecopopulism. Toxic waste and the movement for environmental justice. University of Minnesota Press, Minneapolis, 1994