Vielfache Chemikalienunverträglichkeit (MCS)



Problemstellung

Treten bei Schadstoffexposition Gesundheitsprobleme auf, reichen Stärke und Dauer der Exposition aber nach heutiger Kenntnis nicht aus, um die Störungen zu erklären, handelt es sich möglicherweise um Vielfache Chemikalienunverträglichkeit (MCS, Multiple Chemical Sensitivity).

Dieses Krankheitsbild wurde in den USA seit den 1980er Jahren diskutiert, lange Zeit kontrovers. Inzwischen ist es dort mehrheitlich akzeptiert. So machte z.B. die Veterans Administration MCS für schwere Gesundheitsprobleme von über 100.000 Golfkriegsveteranen ("Golfkriegs-Syndrom") verantwortlich.


Krankheitsbild

MCS (Vielfache Chemikalienunverträglichkeit) ist ein neues Krankheitsbild mit folgenden Merkmalen: die Symptome lassen sich vorhersagbar durch verschiedene Stoffe oder in Dosierungen auslösen, die von Toxikologen und Allergologen meist als unschädlich betrachtet werden; die Symptome sind oft vielfältig, betreffen aber immer auch das Nervensystem; der Schweregrad ist sehr unterschiedlich, kann von unauffälligen Befindlichkeitsstörungen bis zu lebensbedrohlichen "Totalallergien" reichen.

MCS kann Beschwerden in folgenden Bereichen zeigen:


Fallbeispiel

Eine Sozialarbeiterin, Ende 50, erwerbsunfähig, zuvor Leiterin einer ambulanten psychiatrischen Einrichtung der Kirche. Ihr gefiel die Arbeit; belastend war nur die Hektik. Bis zu ihrer Erkrankung war sie gesund.

Auslöser der Gesundheitsprobleme war ein unsachgemäßer Kammerjäger-Einsatz am Arbeitsplatz mit Permethrin und - mehr als 100-fach überdosiert - einem Carbamat. Sofort traten Augenbrennen, starke Sehstörungen, Husten, Übelkeit, bleierne Glieder, Herzrasen, extreme Hauttrockenheit, Hautablösung von Händen und Füßen, Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit und Erschöpfung auf. Geblieben sind schnelle Ermüdung, geringe Belastbarkeit, Muskelschmerzen, Migräne, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen und Stimmungsschwankungen.

Verschiedene Ärzte diagnostizierten unterschiedliche Störungen: vegetative Erschöpfung, Schlafmangel, "exotische Kontaktallergie", Sehstörungen, "subjektive Beschwerden ohne Befund", Depression, Anpassungsstörung, Menopausen-Syndrom, Bronchitis, Myopathie, Polyneuropathie und MCS. Fast alle Ärzte ignorierten ihre Darstellung der Ursachen. Mehrere Monate nach Erkrankung wurde sie erwerbsunfähig.

Sie kämpft seit Jahren gegen die Berufsgenossenschaft um Anerkennung der Erkrankung. Ein Umweltarzt und die von ihr beauftragte Meßstelle konnten noch Monate nach dem Kammerjäger-Einsatz die massive Insektizidbelastung am Arbeitsplatz feststellen. Bevor ein amtlicher Gutachter dies überprüfen konnte, ließ die Kirche aber kurzerhand die Räume sanieren.


Situation in den USA

MCS wird in den USA häufig diagnostiziert. Doch die Datenlage ist immer noch unbefriedigend. Forschung über Häufigkeit, Erscheinungsformen, Schweregrad und Verlauf von MCS wird seit langem gefordert, aber kaum gefördert. Daher haben Betroffene zum Teil selbst mit dem Sammeln von Daten begonnen.


MCS-Erklärungen

MCS hat in den USA zu Kontroversen zwischen verschiedenen medizinischen Disziplinen geführt. Bezüglich der Erklärung von MCS gibt es vor allem zwei Positionen:


Auslöser, Diagnosen, Verbreitungsgrad

Chemische Auslöser von MCS sind u.a. Lösemittel, Pestizide, bestimmte Metalle und ihre Legierungen, Verbrennungsprodukte und andere Schadstoffgemische. Sie sind in der Arbeits- und Umweltmedizin oft bekannt, etwa als allergisierend, krebserzeugend, nerven- oder immuntoxisch.

MCS-Betroffene erhalten oft sehr unterschiedliche Diagnosen: Infektion, Allergie, Stoffwechselstörung, (Nerven-) Vergiftung, Immundefekt, hormonelle Fehlfunktion, Mangelerkrankung, oder genetische Störung. Verbreitet sind psychosomatische und psychiatrische Diagnosen. Die Diagnose MCS selbst wird in der BRD nur in einer Minderheit von Fällen gestellt. Allerdings ist eine Tendenz beobachtbar, die Anerkennung einer durch Lösemittel verursachten beruflichen Nervenerkrankung dadurch zu umgehen, daß Betroffenen eine MCS attestiert wird.

Eine nennenswerte MCS-Forschung, die es erlaubt, die Krankheitshäufigkeit abzuschätzen, gibt es in der BRD nicht. Eine Hochrechnung aus verschiedenen, je einzeln unbefriedigenden, Datenquellen schätzte die Zahl mittel bis schwer von MCS Betroffener auf etwa 54.000 Personen in der BRD. Diese Schätzung bewegt sich vermutlich an der Untergrenze der realen Betroffenenzahl. Behördliche Schätzungen in den USA nennen viel höhere Zahlen für chemisch-bedingte Gesundheitsstörungen (einschließlich Allergien und Vergiftungen), nämlich ca. 16 % der US-Bevölkerung.


MCS-Betroffene

Nach Ashford/Miller sind vor allem vier Personengruppen von MCS betroffen:

Gruppe Art der Exposition Merkmale
Industriearbeiter akute oder chronische Exposition am Arbeitsplatz meist Männer, Arbeiter, Alter 20 bis 65 Jahre
Bewohner/Nutzer dichter Gebäude Ausgasen von Baumaterialien, Büromöbeln oder -materialien; Tabakrauch; "schlechte Luft" eher Frauen, eher Angestellte,Alter 20 bis 65 Jahre; auch Schulkinder
Personen in belasteten Gemeinden (Sonder-) Müll-Deponien; Pestizid-Versprühung aus der Luft; Grundwasser- und Luft-Verschmutzung durch nahegelegene Industrie oder sonstige Schadquellen alle Altersgruppen; Männer und Frauen; Säuglinge und Kinder oft zuerst betroffen; manchmal Schädigungen der Embryos bei Schwangeren; eher Mittel- und Unterschicht
Einzelpersonen Raumluft zuhause, Verbrauchsgegenstände, Medikamente, Pestizide 70-80 % Frauen; zur Hälfte im Alter 30-50; Mittel- bis Oberschicht, höherer Berufsstatus

Eine BRD-Studie fand MCS-Betroffene stark überrepräsentiert in einigen gewerblichen Berufen mit hoher Schadstoffexposition, z.B. Laborpersonal, Drucker, Fußbodenleger, oder Maler/Lackierer. Zugleich zeigte sich, daß die auftretenden Symptome stark differieren und verschiedene Symptomtypen bilden.


Psychiatrisierung MCS-Kranker

In der BRD werden die beschriebenen Gesundheitsprobleme bevorzugt als psychosomatische oder psychiatrische Störung interpretiert. Dadurch werden Arbeits- oder Umweltfaktoren als Ursache ausblendet. Eine Anerkennung als Berufs- oder Umweltkrankheit scheidet dann aus; Linderung wird von Psychotherapie und Psychopharmaka erwartet. Betroffene werden von Ärzten und Kassen als "Problempatienten" gesehen, erfahren auch von Angehörigen oft wenig Unterstützung.


Literatur



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